GEMEINDEN

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«Das Urner Dorf» von Karl Iten

Gurtnellen «Du liegst weit abseits der grossen Strasse, hoch auf der Steilstufe des Reusstales, und Gurtnellen-Station, deine jüngere Schwester unten am Fluss, wird den meisten viel bekannter sein als du. So geht es auch mir. Als ich mich niedersetzte, um meine Gedanken über dich festzuhalten, wurde mir plötzlich bewusst, wie wenig ich dich kenne! Was gibt es denn überhaupt über dich zu berichten? Aber je länger ich mich in Gedanken mit dir beschäftige, umso mehr meine ich, dass gerade deine abgeschiedene Lage und das Fehlen spektakulärer Sehenswürdigkeiten, das Vorherrschen einfacher, alltäglicher Dinge, aus dir ein Dörfchen machen, das „urnerischer" ist, als viel berühmtere im Kanton. Hier gewinnt das Unscheinbarste ein bedeutsames Eigenleben und wird zum beglückenden Ereignis; hier sprechen die kleinen Dinge eine beredte Sprache zu mir: Und seien es nur die blitzblanken Fensterscheiben mit den freundlichen, weissgestrichenen Fensterrahmen in den schwarzbraunen Holzfassaden der weitverstreuten Häuser, die auf geschichteten Holzspälten vor den Stubenfenstern, die grossen, an den Hausmauern angelehnten Hornschlitten oder der Wegknecht am Strassenrand, der den fremden Besucher misstrauisch betrachtet! Nur hie und da, wenn in strengen Wintern die Lawinen niederfahren, erscheint dein Name für kurze Zeit in den Zeitungen; dann vergisst ihn die geschäftige Welt wieder. – Habe ich nicht eben noch gezweifelt, ob ich etwas über dich zu schreiben wisse? Doch siehe da: mein zaghafter Versuch, dich in Worte zu fassen, ist unerwartet zu einem Lob der Stille und des einfachen Lebens geworden!» Iten Karl; Eine beschauliche Reise durch den Kanton Uri festgehalten in einer Folge von Linolschnitten und Texten von Karl Iten; Altdorf 1968. -------------------------

Wiler «Deine Häuser tragen das Gepräge des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, und mancher mag dich deshalb unbedeutend finden. Kein Reiseführer weiss von dir zu berichten. Ich aber möchte selbst die hässliche Bruchsteinarchitektur der alten Fabrik in deinem Bild nicht missen. Die goldene Aura der Vergänglichkeit liegt über dem alten Industriegebäude: Der Rost, der die Fensterrahmen mit einem abblätternden Schorf überzogen hat; der Staub der Jahrzehnte, der das Menschenwerk wieder der Umgebung angleicht. – Der Fluss, der dich durchzieht, hat als Farbe ein milchig getrübtes Türkischgrün, das sich immer wieder im schneeigen Weiss schaumiger Wirbel auflöst. Wo das Wasser nicht hinreicht, spricht die entblösste Seele des Bachbettes eine eindringliche Sprache zu mir. Wie schimmern die uralten, vom Wasser geschliffenen Steine! Da ist ein rötlich abgetöntes Grau und dort ein grünliches von der Farbe des Malachits; dieses leuchtet silbern wie Fischschuppen, jenes glänzt matt und dunkel wie Schiefer; gelblich überhaucht ist ein anderes und ockerfarben das daneben; und manche sind von schwärzlichem Moos überwachsen; doch alle diese Töne sind so zart, dass ich sie mehr ahne als wirklich sehe – ein graues und doch buntes Bild! Ich liebe Dörfer, die an Flüssen liegen; sie strömen etwas Kurzweiliges aus. Wie sollte das bei dir, Gurtnellen, anders sein? Das Wasser der Reuss trennt dich in zwei Teile; doch die altersgraue Brücke verbindet sie wieder miteinander. Sie ist dein Mittelpunkt, wo sich alle Linien wie die Strahlen in einem Brennglas schneiden. Brücke über die Reuss – du wirst mir zum Sinnbild des Ewig-Ruhenden am Ufer der fliessenden Zeit!» Iten Karl; Eine beschauliche Reise durch den Kanton Uri festgehalten in einer Folge von Linolschnitten und Texten von Karl Iten; Altdorf 1968. -------------------------