GEMEINDEN

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«Das Urner Dorf» von Karl Iten

Realp «Noch ist mir die Überraschung gegenwärtig, die mich überkam, als ich zum ersten Mal dein hinteres Gässchen betrat: Ich glaubte mich in ein weltverlorenes Tessiner Bergdorf versetzt! Diese Ställe aus Bruchsteinen, den gepflästerten Boden, die parlierenden Frauen mit den bunten Schürzen und Kopftüchern – ich fand sie weiter südwärts wieder. Du verströmst schon einen Hauch romanischer Lebensart. Welch fröhliches Völklein wohnt doch hier! Die farbenfrohen Zeilen trocknender Wäsche, quer über der Gasse, wehen mit neapolitanischer Unbekümmertheit in den grauen Alltag hinein; wo ist sonst ein Dorf, das sich eine solch üppige Beflaggung leistet? – Man müsste dich besuchen, Realp, wenn die Schafe von der Alp zurückgekommen sind. Da werden die gewaltigen Hornschlitten mitten in die Gasse gestellt; sie dienen so als Tische, auf denen die Schafe geschoren werden. Unter fröhlichem Plaudern und Lachen schälen die Frauen und Mädchen die Körper der Tiere aus den dicken Wollpelzen, nicht ohne sorgsam darauf zu achten, dass ein keckes Büschel Haare auf dem Kopfe stehen bleibt. – Und dann erst die Metzgete im Freien! Staunend stehen die Kinder, wenn das warme Blut in die bereitstehenden Bottiche schiesst. Sein Geruch weckt in den Hunden, die hier gross wie Kälber sind, Ur-Instinkte; schnüffelnd und lauernd stehen sie herum und zittern vor Begier und vor Verlangen, ihre scharfen Zähne in das rote Fleisch zu schlagen. – Wie fremde, heidnische Symbole ragen die Telegraphenstangen in den blassen Winterhimmel, und ihre Drähte weisen weit hinaus ins Niemandsland der verlassenen Passlandschaft, als Wegweiser ins Ungewisse und doch voll tröstlicher Verheissung, dass dort, wo sie hinführen, wieder Menschen wohnen.» Iten Karl; Eine beschauliche Reise durch den Kanton Uri festgehalten in einer Folge von Linolschnitten und Texten von Karl Iten; Altdorf 1968. -------------------------